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DDR führte geheime Pharmatests an Bürgern durch


Die geheimen Pharmatests an DDR-Bürgern

Von Nicola Kuhrt

Aktualisiert am 04.12.2012Lesedauer: 5 Min.
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Medizin: Ohne ihre Zustimmung wurde an DDR-Bürgern Pharmatests durchgeführtVergrößern des Bildes
Ohne ihre Zustimmung wurde an DDR-Bürgern Pharmatests durchgeführt (Quelle: Thinkstock by Getty-Images-bilder)

Als hätte er es geahnt. Gerhard Lehrer, in einem DDR-Krankenhaus in Dresden wegen eines Herzinfarkts behandelt, gab die Medikamente, die man ihm gegeben hatte, nicht zurück. Drei Wochen nach der Entlassung Lehrers - dem sechzigjährigen Elektriker ging es immer schlechter statt besser - wird der Mann plötzlich von der Klinik aufgefordert, das Medikament abzusetzen, sofort. Und zurückgeben soll er alle Pillen, die er noch übrig hat. Lehrer tat das nicht. "Heb' sie gut auf, vielleicht kannst du sie ja mal brauchen", sagte er zu seiner Frau. Gut ein Jahr später starb er.

Seine Witwe Anneliese Lehrer hat die rote Schachtel bis heute aufgehoben. Es sei schon merkwürdig gewesen, erzählt sie, bei der Einweisung Anfang Mai 1989 hatte der behandelnde Arzt die rot-weißen Kapseln noch vollmundig gelobt. "Die bekommen sie nur bei mir", hatte er gesagt. Als riskante Pharmatest-Praktiken in DDR-Kliniken durch einen Fernsehbericht im MDR bekannt werden, meldet sie sich beim Sender. Im pharmazeutischen Labor der Uni Leipzig werden die Kapseln analysiert. Ergebnis: Es ist kein Wirkstoff darin enthalten.

Ein Schock - und die plötzliche Gewissheit: Gerhard Lehrer war ein Versuchskaninchen bei Arzneimitteltests - in dem Teil der Studiengruppe, die ein Placebo, also ein wirkungsloses Scheinpräparat, erhielt. Einem schwer herzkranken Mann wurde eine echte Therapie vorenthalten.

Gefährliche Allianz westlicher Pharmakonzerne

Wie Recherchen der Journalisten Stefan Hoge und Carsten Opitz für ihren Film "Test und Tote" belegen, war die DDR Ende der achtziger Jahre zu einem der wichtigsten Testgebiete für neue Arzneimittel avanciert. In der Dokumentation kommen nicht nur betroffene Patienten und deren Angehörige zu Wort, auch Pharmahistoriker und ein früherer Manager des Hoechst-Konzerns erklären, wie es zu den umfangreichen Arzneimitteltests kommen konnte. Bisher unzugängliche Akten belegen die planmäßige Zusammenarbeit von staatlichen Institutionen, Ärzten und westlichen Pharmakonzernen.

Eine Nummer auf der Medikamentenschachtel von Gerhard Lehrer brachte die Journalisten auf die Spur: In lange verschollen geglaubten Unterlagen des DDR-Gesundheitsministeriums lässt sich der Arzneimitteltest zuordnen: Lehrer war ohne sein Wissen Teilnehmer einer Studie des Wirkstoffs Ramipril geworden. Der Pharmakonzern Hoechst war auf der Suche nach neuen Anwendungsgebieten für den erfolgreichen Blutdrucksenker.

Mangelwirtschaft begünstigte die Deals

Begünstigt wurden die geheimen Pillentests in der DDR durch zwei Entwicklungen: Insbesondere in den achtziger Jahren entwickelte sich der sozialistische Staat zur Mangelwirtschaft. Es fehlte nicht nur an Südfrüchten und Autoersatzteilen: Auch Ärzte konnten ihren Patienten nicht immer alle benötigten Medikamente verordnen. "Es gab durchaus auch Apotheken, die 20 Prozent der Präparate nicht mehr liefern konnten, zu bestimmten Zeiten", berichtet Pharmaziehistoriker Christoph Friedrich von der Uni Marburg. "Und das setzte sich natürlich auch in den Kliniken fort."

Genau in dieser Phase erlebte die Pharmaindustrie die Auswirkungen des bis dahin größten Arzneimittelskandals. Weltweit kamen Anfang der sechziger Jahre mehrere tausend Neugeborene mit schweren Fehlbildungen zur Welt, deren Mütter Contergan eingenommen hatten. Ende 1961 nahm die Firma Grünenthal ihr Beruhigungsmittel vom Markt. Infolgedessen verschärfte die Regierung in Westdeutschland die Zulassungsbedingungen für neue Medikamente. Ein wirklich neues Arzneimittelgesetz trat erst 1978 in Kraft, seitdem müssen Patienten über ihre Rechte und die Risiken in Studien aufgeklärt werden.

Westgeld für Menschentests

Die neuen gesetzlichen Auflagen zur Marktzulassung zwangen die Hersteller zu umfangreicheren klinischen Studien ihrer Präparate an großen Patientengruppen. Sie verschärften die notwendige Suche nach mehr testwilligen Ärzten und Patienten zusätzlich. Eines dieser neuen Testgebiete fanden die westdeutschen Unternehmen in der DDR.

In dem Staat waren Ende der siebziger Jahre die Klagen über Mängel im Gesundheitssystem der Ärzte unüberhörbar geworden, berichtet Journalist Opitz aus den Stasi-Akten. Um eine schnelle Lösung jenseits der Planvorgaben zu erreichen, habe der DDR-Gesundheitsminister Ludwig Mecklinger mehrere Brandbriefe direkt an Erich Honecker geschrieben. Hierin warnt er sogar vor steigenden Zahlen ausreisewilliger Ärzte. Honecker reagiert in einer Nacht- und Nebelaktion. Er weist den Zugriff auf die für den Ernstfall gebunkerten Staatsreserven an.

In einer geheimen Sitzung mit für das Gesundheitswesen verantwortlichen Zentralkomitee-Mitgliedern werden im Frühjahr 1983 die Weichen für einen folgenschweren Deal gestellt, berichtet Historiker Friedrich. An ausgewählten Kliniken sollen Ärzte für westliche Pharmaunternehmen klinische Tests von noch nicht zugelassenen Medikamenten durchführen. Das dafür eingenommene Westgeld sollte hauptsächlich für Investitionen in den eigenen Kliniken dienen. Zuvor wurden hier nur West-Medikamente getestet, die für den Import genehmigt werden sollten. "Sie nannten das 'immateriellen Export'", sagt Opitz, der für den Film in zwei Jahren zahllose Dokumente durchforstet, Experten und Zeitzeugen befragt hat.

Kopfprämie in D-Mark

Wie der Handel konkret lief, wie West-Konzerne Verträge mit der als GmbH agierenden DDR-Außenhandelsfirma schlossen, davon erzählt die Dokumentation. In monatelangen Verhandlungen wurde knallhart um Fallpauschalen für jeden erfolgreich durchgeführten Test gefeilscht. Wie gut diese grenzüberschreitende Zusammenarbeit lief, belegen die Akten des Gesundheitsministeriums. Von 20 Auftragstestungen im Jahr 1983 steigt ihre Zahl auf 165 im Jahr 1988.

"Wir waren keine dummen DDR-Bürger", sagt Hubert Bruchmüller. "Wenn das da so festgelegt ist, hat man das einfach so gemacht." Der heutige Invalidenrentner hatte eine Sportlerkarriere einschlagen wollen, eine unentdeckte Herzkrankheit machte dem Elektromonteur einen Strich durch die Rechnung. Der damals 30-Jährige wurde ins Bezirkskrankenhaus Lostau bei Magdeburg geschickt, eine der wenigen Spezialeinrichtungen im Land. An ihm wurde - ohne sein Wissen - das Medikament Spirapril von Sandoz getestet. Während seiner Zeit im Krankenhaus erlebte er, wie sein Bettnachbar eine Herzattacke bekam - "ich habe den nie wieder gesehen". Bis Dezember 1989 starben während dieser Auftragsstudie in Lostau sechs der 17 getesteten Menschen. Dann wurden die Ärzte gestoppt, berichten die Journalisten aus den Akten des Bundesarchivs.

Lukratives Geschäft bis zum Mauerfall

Die Testklinik DDR schloss mit dem Mauerfall ihre Pforten - bis dahin verdiente der Staat Millionen an D-Mark. Wie viel er an jeder Auftragsstudie verdient hat, lässt sich nicht mehr herausfinden. Der Großteil der Akten ging nach der Auflösung des Gesundheitsministeriums der DDR verloren. Einzelne Auftragsstudien mit Medikamenten haben nachweislich bis zu 860.000 DM eingebracht.

Auch die journalistischen Recherchen über die Aufklärung der Patienten bringen keine Klarheit. Trotz wiederholter Anfragen in den Archiven der Krankenhäuser und der beteiligten Pharmafirmen blieben die rechtsgültigen schriftlichen Einwilligungserklärungen der Patienten verschollen. Natürlich habe man die Nachfolger von Hoechst und Sandoz angefragt, sagt Opitz. Sanofi-Aventis sei ganz kooperativ gewesen und hat einige Prüfakten von Gerhard Lehrer aus dem übernommenen Hoechst-Archiv geschickt.

Doch weder die Verbände der Pharmaindustrie noch die zuständigen Ministerien konnten angeblich einen einzigen Verantwortlichen finden, der Ahnung von den grenzüberschreitenden Tests hatte. Dagegen konnten die Journalisten sogar jene Mitarbeiter ausfindig machen, welche die Tests von Hoechst in der DDR tagtäglich organisierten. Auf der West- und Ost-Seite wurden Interviews vor der Kamera jedoch kategorisch abgelehnt.

Ein einziger ehemaliger DDR-Arzt war zu Aussagen über seine Auftragstestungen an den befragten Patienten bereit. Die meisten DDR-Mediziner würden ihr Gesundheitswesen gern als von politischen und wirtschaftlichen Zwängen freien Raum in Erinnerung behalten, vermutet Journalist Opitz. Dass dies keineswegs so war, zeigt seine Dokumentation.

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