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Zensur in der Tierforschung: Der Pinguin, ein ganz perverser Vogel


Wissen
Der Pinguin - ein ganz perverser Vogel

spiegel-online, Von Frank Patalong

11.06.2012Lesedauer: 3 Min.
Adélie-Pinguine in der Antarktis: Die Tiere sind wahre PerverslingeVergrößern des BildesAdélie-Pinguine in der Antarktis: Die Tiere sind wahre Perverslinge (Quelle: Reuters-bilder)
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Drei Jahre lang erforschte George Murray Levick das Leben der Pinguine. Was er herausfand, war bahnbrechend - und schockierte den Wissenschaftler zutiefst: So pervers erschien ihm das Sexualleben der Vögel, dass die Studie zensiert und versteckt wurde. Erst 97 Jahre später wird sie nun öffentlich.

George Murray Levick (1876-1956) war das, was man in alter Zeit einen Gentleman nannte: Gebildet und gesittet, selbst unter widrigsten Umständen nie Beherrschung und Benimm vergessend. Jemand, der wusste, welche Erwartungen er zu erfüllen hatte - und was man von ihm erwarten durfte, nicht zu tun.

Was Levick tat, gehört zu den Heldentaten seiner Zeit. Die Jahre von 1910 bis 1913 verbrachte er als Teil der am Ende so tragisch gescheiterten Expedition von Robert Scott in der Antarktis. Er gehörte zur fünfköpfigen nördlichen Expeditionsgruppe, die zwar gezwungen war, 1912 unter unbeschreiblichen Bedingungen in einer Eishöhle provisorisch zu überwintern, dies aber immerhin überlebte.

Und mehr als das, Levick brachte auch seine Tagebücher zurück, die den Grundstock für eine bahnbrechende Arbeit enthielten: eine 1915 vollendete, akribische Studie über Leben und Verhalten von Adélie-Pinguinen, detaillierter als alles, was bis dahin je über diese Tiere verfasst worden war.

Es sollte 97 Jahre dauern, bis diese Studie wiederentdeckt und nun in aller Vollständigkeit öffentlich wurde. Denn was der Gentleman-Wissenschaftler Levick nach seiner Heimkehr nach Großbritannien veröffentlichte, war nur eine zensierte Studie: Das Kapitel zum Sexualverhalten der Vögel hatte er herausgenommen.

Verbrecherische Vögel!

Dass die Details seiner diesbezüglichen Beobachtungen nie die breite Öffentlichkeit erreichen sollten, hatte Levick schon beim Schreiben entschieden. Alle Notizen und Beobachtungen sexueller Natur verfasste er auf Griechisch, seine Beobachtungen sollten kein unschuldiges Auge schockieren: Zu skandalös erschien ihm das "verdorbene Verhalten" der perversen Pinguine!

Was Levick als Erster beobachtete:

  • scheinbar nekrophiles Sexualverhalten: Versuche von männlichen Jungvögeln, sich mit toten Weibchen zu paaren;
  • offenbar sexuell motivierte Attacken auf Jungvögel;
  • autosexuelles Verhalten: Selbstbefriedigung?
  • Homosexualität;
  • nicht auf Fortpflanzung ausgerichtete sexuelle Aktivität!

Mit einem Wort: Unaussprechliches! Was Verhaltenswissenschaftler heute einordnen und interpretieren können, schockierte Levick und seine Zeitgenossen zutiefst. Es erschien ihm unnormal, unnatürlich. Er musste die beobachteten Verhaltensmuster als sinnlos begreifen, weil sie dem Sinn von Sexualität, so wie er diesen verstand, zuwiderliefen.

Zudem vermochte er es nicht, seine wissenschaftlichen Beobachtungen von seinem moralischen Empfinden zu trennen. Was er sah, war für ihn im Sinne des Wortes böse. Levick war in dieser Hinsicht ein Kind seiner Zeit. Dass sexuell konnotierte Funde aus Natur- und Kulturwissenschaft eher verborgen als veröffentlicht wurden, war im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert ein Standard.

Vermenschlichungen: Forschung mit moralischem Filter

Vier eng beschriebene Seiten füllte Levick mit seinen in griechischer Sprache kodierten Beobachtungen. Er bemerkte "kleine Gruppen von Hooligans" von "erschreckender Verdorbenheit" am Rand der großen Schwärme. Sie belästigten jedes Küken, das ihres Weges kam. Mitunter wurden so attackierte Jungvögel verletzt oder sogar getötet. Levick schrieb: "Die Verbrechen, die sie begingen, sind von einer Art, wie sie in diesem Buch keinen Raum finden soll. Doch ist es tatsächlich interessant zu bemerken, dass, wo die Natur ihnen Beschäftigung zudenkt, diese Vögel wie Menschen durch Faulheit degenerieren."

Kurzum: Wo keine Zucht und Disziplin, da keine Ordnung, stattdessen unnatürliches Verhalten. Ohne Zweifel, diese Vögel waren keine Gentlemen.

Das sah wohl nicht nur Levick so. Zurück in England brachte er zwar seine Studie "Natural History of the Adélie Penguin" zu Papier, machte die Wasservögel darin aber zu weitgehend sexualitätsfreien Lebewesen - zumindest was das Verschweigen ihrer "Perversionen" anging.

Die schilderte er in einem anderen, weit kürzeren Papier mit dem Titel "Sexual Habits of the Adélie Penguin", das er in einer Auflage von nur 100 Exemplaren drucken ließ und nur von Hand zu Hand an ausgewählte Experten verteilte. Sie verschwanden im sprichwörtlichen Giftschrank, wo sie nicht nach dem Lesen vernichtet wurden: Nur zwei Exemplare dieser im Kontext ihrer Zeit wohl als Pinguin-Pornografie wahrgenommenen Papiere scheinen heute noch zu existieren. Der Rest: Weggeschlossen, um die empfindlichen Gemüter der kultivierten, an Naturkunde und Wissenschaft, nicht aber an solch schockierenden, verdorbenen Details interessierten Kreise zu schützen - oder eben vernichtet.

Niemand nahm die enthaltenen Informationen auf, zitierte oder erwähnte sie irgendwo, verarbeitete sie in anderen Kontexten. Als rund 50 Jahre später die ersten Beobachtungen zum tatsächlich außerordentlichen Sexualverhalten der Adélie-Pinguine erschienen, waren Levicks Vorarbeiten völlig vergessen.

Wiedergefunden hat sie Douglas Russell in den Tiefen der Archive des britischen Natural History Museum, Außenstelle Tring. Gemeinsam mit William Sladen und David Ainley stellte er seine Studien zu Levicks Papier nun im Wissenschaftsmagazin Polar Record vor. Levicks Originalpapiere sind im Rahmen der "Scott's Last Expedition"-Ausstellung im Londoner Natural History Museum zu sehen. Dokumente, in denen Wissenschafts- und Kulturgeschichte zusammenkommen.

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