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Hautfabrik in Stuttgart nimmt Betrieb auf


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Das Wunder der Fleischwerdung

spiegel-online, Von Johann Grolle

Aktualisiert am 25.04.2011Lesedauer: 6 Min.
In Stuttgart wollen Forscher Haut industriell herstellenVergrößern des BildesIn Stuttgart wollen Forscher Haut industriell herstellen (Quelle: Fraunhofer IGB/Rafael Krötz)
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Am Stuttgarter Fraunhofer-Institut nimmt eine Hautfabrik den Betrieb auf. Die Forscher wollen einem neuen Gewerbe den Weg ebnen: der industriellen Fertigung von Menschengewebe.

Ein Greifarm schnappt sich ein Plastiktöpfchen, in dem eine rosa Lösung schwappt. Ein Laserstrahl huscht über die Flüssigkeit hinweg. Dann schnurrt auf einer stählernen Schiene ein anderer Roboter herbei und träufelt ein paar Tröpfchen durch haarfeine Pipetten. Ein Monitor protokolliert Temperatur, Kohlendioxid, Luftfeuchtigkeit.

Nur ein leises Surren ist zu hören in dem Laborraum des Stuttgarter Fraunhofer-Instituts. Steril hinter Glas verriegelt haben die Maschinen soeben mit der Herstellung eines außergewöhnlichen Produkts begonnen: menschlicher Haut.

Allmonatlich wird die Stuttgarter Hautfabrik künftig 5000 kreisrunde, etwa centgroße Gewebeläppchen fertigen. Ein Stückpreis von 50 Euro ist anvisiert. Das Produkt ist weißlich, fast durchsichtig. Doch bei Bedarf, sagt Projektleiterin Heike Walles, seien auch Brauntöne lieferbar.

Unscheinbar sehen die kleinen Gewebestückchen aus, wie sie da in ihrer Nährlösung schwimmen. Aber bei dem Stuttgarter Pilotprojekt geht es ja auch um mehr als nur die Hautproduktion. Die Apparatur soll den Weg ebnen in eine neue Ära, in der Menschengewebe zum Industrieprodukt wird. Das Wunder der Fleischwerdung, das die Natur ins Dunkel der Gebärmutter verlegt hat, vollzieht sich hier robotergesteuert im kalten Neonlicht einer Montagehalle.

"Anfangs haben die Forscher viel zu viel versprochen"

Endlich ist Heike Walles, 48, damit am Ziel. Ihre ganze Forscherkarriere hat sie der Gewebezucht gewidmet. Nicht zuletzt das berühmte Bild aus dem Vacanti-Labor war es, das die Biochemikerin einst für dieses Zukunftsthema begeistert hat: Vor nunmehr 15 Jahren hatten die beiden Brüder Jay und Chuck Vacanti an der Harvard University ein Menschenohr modelliert und einer Maus auf den Rücken montiert. Das Foto dieser Kreatur präsentierten sie dann zusammen mit der kühnen Vision einer zukünftigen Medizin der Weltöffentlichkeit.

Ein neues Kapitel in der Geschichte der Transplantation breche an, so lautete ihr Versprechen. Nie wieder werde es Mangel an Spenderorganen geben. Denn schon bald werde menschliches Gewebe nach Maß herstellbar sein.

Die Vacantis sprachen davon, wie funktionstüchtige Menschenherzen in Glaskolben heranreifen und wie Lebern in Wärmeöfen wie Hefekuchen aufgehen würden. Ganze Gliedmaßen ließen sich in der Retorte züchten, schwärmte Chuck Vacanti und zeigte die Skizze eines synthetischen Arms herum. "Tissue Engineering", Gewebezucht, nannten die Vacantis ihr neues Gewerbe.

Gelockt von solchen Verheißungen heuerte Walles damals bei den Herzchirurgen an der medizinischen Hochschule Hannover an, um sich an die Herstellung von Blutgefäßen oder Herzklappen zu machen - doch bald musste sie einsehen, wie naiv die Träume der Visionäre gewesen waren. "Anfangs haben die Forscher viel zu viel versprochen", sagt sie. "Damals half das, Akzeptanz für die neue Technik zu bekommen. Aber heute sind Patienten und Gesellschaft zu Recht enttäuscht."

Erste Erfolge blieben Einzelfälle

Zwar sorgten die Gewebezüchter immer wieder für Schlagzeilen: Die Forscher des Vacanti-Labors legten nach und führten der Öffentlichkeit ein kirschgroßes Herz vor, das volle 40 Tage lang im Brutkasten vor sich hin wummerte. Einer Ratte bauten sie sogar eine Lunge aus der Bioretorte ein, die das Tier einige Stunden lang am Leben hielt. Und auch einen Künstler wiesen sie in die Kunst der Gewebezucht ein, so dass der ein Steak in der Petrischale aufpäppeln konnte (die Konsistenz des Kunstfleisches freilich, so gestand er nach der Verkostung, sei grausig und der Geschmack undefinierbar).

Andernorts verkündeten Chirurgen auch bei Versuchen am Menschen Erfolge: In North Carolina zum Beispiel züchteten Ärzte aus Stammzellen eine Blase, die sie missgebildeten Kindern implantierten. Noch spektakulärer mutet das Experiment an, das Mediziner in Kiel wagten, um einen tumorzerfressenen Unterkiefer zu rekonstruieren: Sie entwarfen am Computer das gewünschte Knochenstück und fertigten nach diesem Vorbild ein Geflecht aus Titandraht, welches sie dann mit Knochenmarkszellen des Patienten besiedelten. Das Ganze ließen sie sieben Wochen lang im Rückenmuskel des 56-jährigen Mannes reifen, bis sie es ihm dann ins Gesicht montierten.

Doch all das sind Einzelfälle geblieben - heroische Pioniertaten, die nie Eingang in den klinischen Alltag fanden. Noch immer ist die Gewebezucht ein raffiniertes Kunsthandwerk, das viel Bastelei und viel Herumprobieren erfordert. Zwar ranken in den Labors der Bioingenieure inzwischen Dutzende verschiedener Zelltypen auf schwamm-, gummi- oder gallertartigen Gerüsten. Doch für den Einsatz im Menschen eignen sich die meisten dieser Konstrukte noch nicht.

Durchblutung bereitet Probleme

Besonders die Durchblutung stellt die Forscher vor Probleme. Immer wieder scheiterte der Versuch, Blutgefäße im Labor sprießen zu lassen, um mit ihnen die Retorten-Organe mit Sauerstoff und Nahrung zu versorgen.

Nur Knorpelgewebe ist so genügsam, dass es sich vergleichsweise bereitwillig manipulieren lässt. Jährlich rund 600 Zuchtknorpel werden schon heute in Deutschland eingesetzt. Sogar in die Tausende geht die Zahl der Patienten, denen im Labor aufgepäppelte Knorpelzellen in geschädigte Kniegelenke oder Bandscheiben infundiert werden.

Wer andere Gewebetypen reif für die Klinik machen will, sieht sich weit größeren Hindernissen gegenüber. Einmal habe auch sie es versucht, erzählt die Stuttgarter Fraunhofer-Forscherin Walles und greift nach einem blutroten Gebilde auf ihrem Schreibtisch: Sie hält einen etwa fingerdicken Schlauch in Händen, der von feinen Äderchen umflochten ist. Es handelt sich um die Nachbildung eines Luftröhrentransplantats, das sie gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Thorax-Chirurgen Thorsten Walles, entwickelt hat.

Ein 28-jähriger Mann etwa hatte Rohrreiniger geschluckt. Seine Freundin hatte sich von ihm getrennt, jetzt wollte er sterben. Sein Leben konnte der Notarzt retten, seine Luftröhre aber war unheilbar verätzt.

Die Stuttgarter Bioingenieure versprachen, Ersatz zu schaffen. Als Grundlage diente ihnen ein Stück Schweinedarm mitsamt den es versorgenden Blutgefäßen. Dieses reinigten die Forscher von allen Schweinezellen, bis nur noch ein Faserskelett zurückblieb, welches sie nun mit menschlichen Gefäß-, Bindegewebs- und Muskelzellen besiedelten.

Für vier Patienten fertigten sie Transplantate, jedes davon letztlich ein Einzelstück. "Es war eine unheimliche Friemelei", sagt Walles. Das mag sinnvoll sein, wenn es darum geht, einzelnen Schwerkranken zu helfen. Als klinische Routinetechnik aber taugt so etwas nicht.

Das mühselige Handwerk müssen Roboter übernehmen

All ihre Erfahrung mit dem Tissue Engineering bestärkte Walles in ihrer Überzeugung, dass sich auf solch mühselige Tüftelei kein neuer Zweig der Medizin würde gründen lassen. Nur wenn Automaten das mühselige Handwerk der Laboranten übernähmen, könnten Produkte entstehen, die den Ansprüchen des Medizinbetriebs genügen.

Die gelernte Biologin machte sich also daran, von Ingenieuren und Verfahrenstechnikern alles über Stresstests und Fehleranalyse zu lernen. Die Techniker wiederum, die sich bisher mit der Herstellung von Glasfasern oder Kondensatoren befasst hatten, mussten nun ihren Robotern beibringen, mit Menschengewebe zu hantieren. So entstand eine Fabrikationsstraße, die keinerlei Ähnlichkeit mehr mit der traditionellen Laborbank hat. Gefertigt werden streng genormte Präparate, die auch den Vorstellungen des Gesetzgebers entgegenkommen dürften.

Die Zulassungsbehörden nämlich wussten anfangs nicht recht, wie sie mit der Vielzahl der im Labor designten Zellen, Organe und Gewebe verfahren sollten: "Die Frage war, um was es sich da eigentlich handelt: Sind das Körperteile, Arzneimittel oder medizintechnische Produkte?", sagt der Chef des Paul-Ehrlich-Instituts Klaus Cichutek.

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Inzwischen ist europaweit entschieden, dass außerhalb des menschlichen Körpers gezüchtetes Gewebe, gleichgültig ob Haut, Knochen, Leber oder Nerven, wie pharmakologische Wirkstoffe zu behandeln sind. Statt, wie in der Chirurgie üblich, neue Verfahren einfach am Patienten auszuprobieren, müssen die Gewebezüchter ein Zulassungsverfahren gemäß Arzneimittelgesetz durchlaufen.

Die Hautfabrik wird zunächst kein Menschenleben retten

"Die Europäische Arzneimittelagentur ist für uns derzeit die vielleicht größte Hürde", sagt der Zellbiologe Michael Sittinger von der Berliner Charité, der seit 20 Jahren im Tissue Engineering seine Berufung sieht. Gerade hat er sich einen gewebespezifischen Zelltyp im Herzen patentieren lassen, mit dem er chronische Herzmuskelschwäche zu behandeln hofft; am Antrag für eine klinische Studie, erklärt Sittinger, arbeite er derzeit.

Die Stuttgarter Hautfabrikanten rechnen sich mit ihren industriell gefertigten Präparaten beste Aussichten auf eine Zulassung aus. Trotzdem wollen sie sich auf dem Weg in die klinische Praxis noch etwas Zeit lassen. Zunächst haben sie gar nicht den Markt des Hautersatzes für Verbrennungsopfer oder für Menschen mit schwer heilenden Wunden im Auge. Ihre Kunden sehen sie vielmehr in der Chemie-, Pharma- und Kosmetikindustrie.

Besonders seit durch die europäische Verordnung zum Chemikaliengesetz (bekannt unter dem Kürzel Reach) die Zahl der gesetzlich geforderten Tierversuche drastisch angestiegen ist, werden dringend alternative Methoden gesucht, mit denen sich die Verträglichkeit neuartiger Substanzen testen lässt. Genau dazu aber könnte die Stuttgarter Fabrikhaut dienen.

So wird diese wohl zunächst kein einziges Menschenleben retten, wohl aber Tausende Tiere vor dem Tod bewahren.

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