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Gegen den Schlussstrich - Interview mit Walter Pehle


Interview
Gegen den Schlussstrich

Ein Interview von Jan Eger

28.01.2008Lesedauer: 4 Min.
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Mit inzwischen weit über 200 Titeln ist die Schwarze Reihe im S. Fischer Verlag die weltweit umfangreichste Buchreihe, die über die Zeit des Nationalsozialismus und den Holocaust aufklärt. Herausgeber Walter Pehle, selbst Historiker, ist es dabei gelungen, zwei Dinge unter einen Hut zu bringen, die nicht leicht unter einen Hut zu bringen sind: wissenschaftlich fundierte, oft auch maßgebliche Bücher zu veröffentlichen, die trotzdem immer wieder ein ungewöhnlich großes Publikum erreichen. Im Interview mit T-Online schildert der 66-Jährige seine Motivation, seit mehr als 30 Jahren gegen das Verdrängen und Vergessen anzukämpfen.

T-Online: Hitlers Machtergreifung jährt sich zum 75. Mal. Als Buchherausgeber und Historiker - ist dies für Sie heute noch ein wichtiges Datum?

Walter Pehle: Ja, dieses Datum ist gewissermaßen der Grund für meine Tätigkeit. Ohne dieses Datum würde ich heute woanders sitzen.

Aber das Datum ist natürlich nur ein Aufhänger. Die publizistische Struktur in Deutschland und auch weltweit lebt sehr stark von solchen Aufhängern. Zum Beispiel 50 Jahre nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs - dann beschäftigt sich die gesamte Szene mit dem Thema. Oder der 10. Mai 1933, der Tag der Bücherverbrennung, der sich in diesem Jahr auch zum 75. Mal jährt - dann werden sicherlich wieder Bücher dazu herauskommen. So geht das immer. Diese Daten sind Anlässe, um sich damit zu beschäftigen, einerlei wie weit die Daten zurückgehen. Wenn sich ein bedeutendes Datum aus dem Leben Karls des Großen mal wieder jährt, werden wieder Publikationen darüber erscheinen. Das ist so - mir gefällt das nicht so sehr, weil Daten zufällig sind. Ich beschäftige mich in der Schwarzen Reihe lieber systematisch und kontinuierlich mit dem Thema Nationalsozialismus.

T-Online: Was vor Hitlers Machtergreifung und danach ereignisgeschichtlich passierte, ist detailliert bekannt. Ihr Ziel war und ist es, mit der Schwarzen Reihe darüber aufzuklären, wie es dazu kommen konnte: zur Herrschaft der Nazis, zum Zweiten Weltkrieg und vor allem zur millionenfachen Vernichtung der Juden. Haben Sie denn bis heute eine Antwort gefunden: Wie konnte es dazu kommen?

Walter Pehle: Das frage ich mich unentwegt: Wie konnte dieser Wahnsinn passieren?

Ich sehe den Nationalsozialismus gewissermaßen als eine Anti-Bewegung auf die für die damaligen Deutschen völlig ungewohnte Weimarer Demokratie. Die Weimarer Republik war eine aufregend fortschrittliche Erscheinung, mit sehr vielen positiven Neuerungen, auch in den Details: So gab es erstmals eine funktionierende Finanzverwaltung, es wurden Häuser gebaut, die heute Weltkulturerbe sind - denken Sie an die Bauhaus-Architektur. Denken Sie überhaupt an die kulturelle Hochzeit der Goldenen 20er Jahre in Berlin, das damals ein Nabel der Welt war. Sämtliche Schriftsteller, die meisten großen Verlage (übrigens auch der S. Fischer Verlag) waren dort. In den Cafés am Alexanderplatz zum Beispiel saßen die klügsten und interessantesten Leute zusammen, was großartig gewesen sein muss.

Gegen diesen mentalen Befreiungsschlag gegen das abgewirtschaftete Kaiserreich, was auch damals schon von gestern war, dagegen haben Ewiggestrige angekämpft und das gesamte neue und komplizierte politische System durcheinander gebracht - unter anderem mit Obstruktion, Putschversuchen, Streiks. Auch die Kommunisten standen der Weimarer Zeit extrem kritisch gegenüber. Der Weimarer Staat ist also von rechts und von links diskreditiert und demontiert worden. Das war eine Entwicklung, die man sich in ihrer Dramatik heute kaum noch vorstellen kann.

In dieser Situation konnten die gandenlosen Vereinfacher wie Hitler und die NSDAP bei den verunsicherten Wählerinnen und Wählern punkten und nach oben kommen.

Aber auch die Rolle der Intellektuellen ist zu beachten: Es gab nicht nur die erwähnten Fortschrittler in Berlin, es gab auch stockkonservative Intellektuelle, und übrigens auch solche, die noch unbeschriebene Blätter waren: Sie hatten gerade ihre Examina abgelegt und waren arbeitslos. Sie haben die sich nun bietenden Gelegenheiten beim Schopfe ergriffen. Aus ihnen wurden - plakativ ausgedrückt - die so genannten SS-Intellektuellen.

Man muss sich in die Erinnerung zurückrufen: Die Machtergreifung durch die NSDAP war unter anderem das Ergebnis einer rechtskonservativen Jugendbewegung. Goebbels zum Beispiel war ein junger Intellektueller Anfang 30. Der Älteste derer, die da hoch kamen, war Hermann Göring - der war gerade mal 40 Jahre alt. Alle anderen waren so um die 30. Sie waren zum Teil hochbegabt und sehr gut ausgebildet. Für die war der Nationalsozialismus ein modernes Projekt, das sie verwirklichen wollten. Dadurch entstand eine unglaubliche Dynamik, die bald hemmungslos ausartete in der Verfolgung und Vernichtung von missliebigen Minderheiten.

Zum Beispiel durch die sogenannte Euthanasie - keine Erfindung der Nazis; über "nutzlose Esser" in den Anstalten, über Euthanasie wurde schon vor dem Ersten Weltkrieg diskutiert. Virulent wurde Euthanasie auch dadurch, dass viele junge Ärzte auf den Arbeitsmarkt drängten und nach Chancen suchten. Man bedenke: Die Weimarer Republik war eine Zeit, in der es nicht nur hohe Arbeitslosenzahlen gab, sondern auch Abiturienten in zuvor nicht gekannter Zahl. Sie alle durften studieren, das war neu; und viele studierten in die Arbeitslosigkeit hinein.

Die Machtergreifung der Nazis erschien vielen Menschen objektiv als Aufbruch - auch wenn es einem schlecht dabei wird, dieses Wort zu gebrauchen - aber das war es objektiv. Ein Aufbruch zu neuen Ufern, dem im Zweiten Weltkrieg dann zwischen 55 und 60 Millionen Menschen zum Opfer fallen sollten.

T-Online: Sie sagen selbst, das Ziel der Schwarzen Reihe ist es, "die dunklen Ecken der NS-Geschichte auszuleuchten" …

Walter Pehle: … damit dort keine Legenden entstehen. Das ist erklärtermaßen die Aufgabe der Zeitgeschichte. In die dunkeln Ecken hineinzuleuchten ist Aufklärung im Wortsinne.

Nach dem Krieg haben sich unendlich viele Legenden eingenistet, weil die ganze Gesellschaft geschwiegen hat. Worüber sollten die Menschen auch reden? Was hätte denn ein Vater sagen sollen, der als Soldat 1946/47 aus dem Krieg zurückkehrte? Hätte er zu Hause erzählen sollen, wie er gewütet, geraubt und gemordet hat? Man hätte sie hinausgeworfen. Also wurde geschwiegen, ohne Ende geschwiegen.

Dieses Schweigen war zu brechen. Es gibt heute noch Leute, die das alles nicht wahrhaben wollen, kleinreden und sagen, sie hätten nicht anders gekonnt.

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